Darf ich Dich Martin nennen?

 

Lieber Martin, Du hast mich nun einige Jahre begleitet. Ich habe viel über Dich gelesen, selbst über Dich geschrieben, von Dir erzählt, gesprochen, vorgetragen. Und ich habe Dich im Laufe dieser Zeit immer mehr bewundert. Es gibt Menschen, die mit dem richtigen Charisma zum richtigen Zeitpunkt in unserer Welt auftreten und die richtigen Dinge tun. Das trifft auf Dich zu. Aber nobody is perfect. Ich habe Dich auch von einer etwas unangenehmen, polternden, abgrenzenden Seite kennengelernt. Du warst eben ein Kind Deiner Zeit. Du warst Mittelalter. Trotzdem warst Du einer von denen, die die Tür zur Neuzeit aufgestoßen haben. Nicht alleine. Diese Zeit hatte viele „Helden“. Von Erasmus von Rotterdam bis Machiavelli bis Vasco da Gama. Und viele Reformatoren.

 

Lieber Martin, ich bewundere auch den Melanchton oder den Spalatin. Aber Du warst der Hartnäckigste. Unsere Sprache, unsere Musik, unser Denken haben von Dir profitiert.

 

Lieber Martin, wenn Du heute durch Deutschland brausen würdest, nicht mit einem Pferd, vermutlich mit vielen Pferdestärken, wie würdest Du diese Welt sehen?

Ich nehme an, Du würdest erfreut feststellen, dass mehr Menschen als jemals zuvor eine eigene Bibel besitzen. Damit ist wohl dein Anliegen erfüllt, das Wort Gottes unter das Volk zu bringen. Du wirst aber auch feststellen, dass nur ganz wenige Menschen wirklich in ihr lesen.

Du würdest wohl erfreut feststellen, dass es flächendeckend überall Kirchen und gut ausgebildete Pfarrer gibt – sogar Pfarrerinnen. Es war Dir zu Deiner Zeit eine Not, dass viele Prediger selber mehr schlecht als recht lesen und reden konnten. Du würdest aber erstaunt und enttäuscht feststellen, dass weniger Menschen als jemals zuvor in die Kirchen gehen und die Predigten hören.

Du würdest erfreut feststellen, dass es keinen Ablasshandel mehr gibt. Die Menschen können sich nicht einfach freikaufen von ihrer Schuld. Sie müssen mehr Verantwortung für sich übernehmen. Sie müssen ehrlich bereuen und ihr Leben ändern. Du würdest aber mit großer Verwunderung feststellen, dass viele Menschen Gott überhaupt nicht mehr für ihr Seelenheil benötigen. Noch mehr würdest Du Dich wahrscheinlich wundern, wenn Du den Fernseher einschaltest und durch die vielen Talkshows zappst. Es wird zwar jede Menge gestritten, geweint, geheuchelt, getränt, alle möglichen Geständnisse abgelegt und ständig irgendjemand um Vergebung gebeten – aber nicht Gott. Sein befreiender, erneuernder, heilsamer Zuspruch der Vergebung ist bei vielen nicht gefragt, vielleicht gar nicht mehr bekannt. Gott kommt überhaupt nicht mehr vor. Vielleicht siehst Du im Fernsehen auch einen der großen Lutherfilme. Erschrocken würdest Du Dich wehren. So viel Aufheben um Deine Person würdest Du nicht akzeptieren.

Du würdest Dich freuen, dass wir heute in Deutschland die Freiheit des Wortes haben und sich niemand den Mund verbieten lassen muss. Enttäuscht würdest Du aber vielleicht auch feststellen, dass wir gar nicht so viel zu sagen haben. Sind wir Christen zu still geworden? Spüren wir noch die Kraft des Wortes?

 

Lieber Martin, wenn Du heute unter uns weilen würdest, was würdest Du tun? Wie würdest Du Dich in unserer Gesellschaft engagieren?

Wirst Du ein gewiefter Kirchenpolitiker (denn das warst Du!) und suchst Dir einen Fürsten, König, Präsidenten, bei dem Du um Verständnis, Unterstützung und Schutz bittest?
Wirst Du Professor der Theologie (auch das warst Du!), kehrst zurück in den Hörsaal, um Dich ganz der Forschung und der Lehre zu widmen und auf die nächste Generation zu hoffen?
Wirst Du als wortgewaltiger Prediger (auch das warst Du!) wieder auf die Kanzel steigen, um an der Basis, in der Gemeinde, für Veränderungen einzutreten?
Wirst Du Dich als zufriedener Familienmensch (auch das warst Du!) in den Kreis Deiner Lieben zurück, um wenigstens privat den Glauben so zu leben, wie Du ihn Dir vorstellt?

Lieber Martin, ich glaube, Du würdest mit Elan all diese Aufgaben anpacken. Aber Du würdest Dich auch immer wieder für längere Zeit in Deine Studierstube zurückziehen, die Bibel lesen und über sie nachdenken. Ich nehme an, Du würdest noch mehr Kritik walten lassen, aber auch den Kern des Wortes herausarbeiten. Du würdest für Dich und die ganze Menschheit in Anspruch nehmen, dass wir Gott nur durch das Wort der Bibel erkennen können. Du würdest aber auch betonen, dass wir die Freiheit haben zu glauben. Niemand kann uns vorschreiben, was wir glauben sollen. Du würdest mit Faust auf den Tisch hauen und sagen: „Es bleibt dabei. Evangelisch sein heißt: Auf die Kraft des Wortes vertrauen, des Wortes Gottes. Dieses Wort kann Veränderungen bewirken, in der Welt und sogar in der Kirche, sogar in den verfahrensten Situationen unseres Lebens.“

Vielleicht würdest Du, lieber Martin, den Vorschlag machen, unsere Welt etwas abzubremsen, uns Zeit für Gott zu nehmen. Denn, wenn wir uns für Gott keine Zeit nehmen, kann Gott auch nichts für uns tun. Also Beten. Nachdenken. In der Bibel lesen.

Du hast mal gesagt: „Es ist eine großartige Sache, ein Christ zu sein. Christsein heißt: Inmitten der Dinge der Welt zu leben und vom dem zu zehren, was nicht groß in Erscheinung tritt, sondern lediglich im Wort zu finden ist.“

Lieber Martin, jetzt hast Du mich an eine Stelle geführt, wo Du mich mit dem Wort alleine lässt, dem ich häufig so kritisch gegenüberstehe und auch noch behaupte, dass Du mir das erlaubt hast. Aber dennoch haben wir ja nichts Anderes als dieses Wort und unser Erleben und unseren nicht zu beweisenden Glauben. Vielleicht sollten wir das nicht verachten und für zu wenig halten.

Lieber Martin, wir machen jetzt einfach weiter.

Dein Werner

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